Zyklus 1 / Arbeitsgruppe 2
Was lernen wir aus bisherigen Erfahrungen mit Betroffenenbeteiligung in Aufarbeitungsprozessen?
Zusammenfassung der Ergebnisse aus den AG-Sitzungen am 12.12.2023, 18.01. und 28.02.2024. Sie fasst die zentralen Diskussionspunkte und Ergebnisse zusammen, ohne sich an den chronologischen Verlauf der Treffen zu halten.
Ausgangslage und Zielsetzung
Die AG 2 befasst sich mit Lehren aus bisherigen Erfahrungen aus der Betroffenenbeteiligung in Aufarbeitungsprozessen. Ziel ist es, Standards zu entwickeln, um die Beteiligung von Betroffenen zu verbessern und Aufarbeitungsprozesse in Institutionen anzupassen.
1. Start von Aufarbeitungsprozessen
Institutionelle Verantwortung und Eigeninitiative der Betroffenen
Die Startbedingungen von Aufarbeitungsprozessen variieren. Es wird zwischen zwei Typen von unterschieden:
- Betroffenengetriebene Aufarbeitung: Betroffene oder Vernetzungen von Betroffenen, etwa Selbsthilfegruppen, fordern Aufarbeitungen ein, oft gegen den Widerstand der Institutionen.
- Institutionelle Aufträge: Institutionen beauftragen Dritte, etwa Forschungseinrichtungen, mit der Aufarbeitung, oft ohne direkten Druck der Betroffenen.
Hindernisse beim Prozessstart
Ein zentrales Hindernis für Aufarbeitungen ist die fehlende Bereitschaft von Institutionen, Prozesse anzustoßen. Eine vorgeschlagene Lösung ist die Schaffung einer unabhängigen Anlaufstelle für Betroffene, die den Kontakt zu Institutionen herstellt und den Einstieg in Aufarbeitungsprozesse erleichtern kann. Diese Stelle könnte bei einer unabhängigen Einrichtung (z. B. der UBSKM oder Landesbetroffenenräten) angesiedelt sein, sollte aber in jedem Fall unabhängig von Institutionen sein, in denen sexualisierte Gewalt verübt wurde.
Die Anerkennung von Leid und die Würdigung der Auswirkungen von sexualisierter Gewalt auf die Biografien der Betroffenen sind wiederum zentrale Bestandteile eines erfolgreichen Prozesses.
2. Beteiligung von Betroffenen
Ressourcen und Infrastruktur für Betroffene
Betroffene bringen deutlich weniger materielle Ressourcen in den Prozess ein als Institutionen. Dadurch haben Betroffene weniger Möglichkeiten, an Aufarbeitungen teilzunehmen, denn Aufarbeitung wird von ihnen oft als persönliche Investition erlebt, was zusätzliche Belastungen mit sich bringt. Daher sind folgende Maßnahmen wichtig:
- Finanzielle Unterstützung: Aufwandsentschädigungen für Zeit, Fahrtkosten oder technische Ausstattung (z.B. für Online-Sitzungen) sind unerlässlich.
- Infrastrukturelle Unterstützung: Es sollte sichergestellt werden, dass Betroffene die nötigen Ressourcen haben, um aktiv am Prozess teilzunehmen, z.B. durch die Bereitstellung von Schulungen oder technischer Hilfe.
Einbeziehung „schwieriger“ Betroffener
Ein zentrales Thema ist die Frage, wie Institutionen Betroffene einbeziehen können, die kritisch gegenüber der Institution sind. Hier wird betont, dass gerade auch diese Stimmen gehört und nicht von vornherein ausgeschlossen werden dürfen. Verschiedene Möglichkeiten der Beteiligung sollten angeboten werden, um unterschiedliche Kapazitäten und Bedürfnisse von Betroffenen zu berücksichtigen.
Spannungsfeld zwischen Überforderung und Beteiligung
Betroffene sollten nicht überfordert, aber auch nicht bevormundet werden. Es wird vorgeschlagen, eine „Stopp-Funktion“ in den Prozessen einzurichten, die Betroffenen das Recht gibt, den Prozess vorübergehend anzuhalten, wenn sie sich überfordert fühlen.
3. Datenschutz als Herausforderung
Datenschutz wurde als problematisches und vielschichtiges Thema in der Aufarbeitung benannt. Es bestehen folgende Herausforderungen:
- Fehlende Transparenz: Oft ist unklar, welche personenbezogenen Daten erhoben und wie diese verwendet werden.
- Anonymisierung der Daten: Es wird gefordert, in stärkerem Maße mit anonymisierten Daten zu arbeiten, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen.
- Institutionelle Datenschutzregelungen: Kirchliche Institutionen haben oft eigene Datenschutzregelungen, die den Aufarbeitungsprozess verlangsamen oder behindern. Oft ist fachrechtliche Beratung erforderlich, um diese komplexen Regelungen zu verstehen.
4. Zugang zu Öffentlichkeit und Presse
Machtungleichgewicht zwischen Institutionen und Betroffenen
Institutionen haben wegen ihrer Pressestellen und Medienkontakten einen erheblichen Vorteil gegenüber Betroffenen. Oft wird der Gang zur Presse für Betroffene notwendig, wenn ihre Anliegen innerhalb des Aufarbeitungsprozesses nicht gehört oder anerkannt werden.
Rolle der Presse in der Aufarbeitung
Die Presse spielte historisch eine wichtige Rolle, z. B. im Bereich der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt an ehemaligen Heimkindern, da die mediale Öffentlichkeit Druck auf Institutionen ausüben konnte. Eine unabhängige Beschwerdestelle könnte den Gang zur Presse ersetzen, indem sie eine offizielle Anlaufstelle für Betroffene bietet, die ihre Beschwerden innerhalb der Aufarbeitungsstrukturen vorbringen möchten.
5. Konfliktmanagement und externe Unterstützung
Einbindung externer Moderation und Mediation
Konflikte sind ein wesentlicher Bestandteil von Aufarbeitungsprozessen. Um Eskalationen zu vermeiden und den Prozess nicht zu gefährden, sollte bereits zu Beginn des Prozesses festgelegt werden, wie Konflikte gehandhabt werden. Externe Mediator:innen oder Moderator:innen könnten bei auftretenden Konflikten helfen, diese zu schlichten und sicherzustellen, sodass der Aufarbeitungsprozess fortgeführt werden kann.
Konkrete Regelungen zur Konfliktbewältigung
Bereits zu Beginn des Prozesses sollten klare Regeln für den Umgang mit Konflikten festgelegt werden. Es wird vorgeschlagen, dass zwei unabhängige Moderator:innen benannt werden, die den gesamten Aufarbeitungsprozess begleiten und im Konfliktfall eingreifen können.
6. Anforderungen an Institutionen und Aufarbeitungsprozesse
Transparenz und Verbindlichkeit
Institutionen müssen transparent darlegen, welche Schritte sie zur Aufarbeitung unternehmen. Dies gilt sowohl für den Beginn als auch für die Fortführung und den Abschluss des Aufarbeitungsprozesses. Auch wenn keine Betroffenen bekannt sind, sollten Institutionen einen Prozess initiieren. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass sie offen kommunizieren und Betroffene respektieren, die anonym bleiben möchten.
Institutionen sollten proaktiv handeln
Ein zentrales Kennzeichen einer institutionellen Bereitschaft zur Aufarbeitung ist die proaktive Offenlegung von Informationen, etwa die Bereitstellung von Akten oder der selbstständige Gang an die Öffentlichkeit.
Anpassungsfähigkeit von Aufarbeitungsprozessen
Unterschiede zwischen großen und kleinen Institutionen (z. B. Sportbund im Gegensatz zu Kinderheim) müssen in Standards mitgedacht werden. Die Größe hat Auswirkungen auf Möglichkeiten und Ressourcen, sodass nicht immer alle im Dialogprozess besprochenen Elemente umsetzbar sein werden.
Standards sollten auch vorschlagen, wie vorgegangen werden kann, wenn Täter-Institutionen nicht mehr existieren. Insbesondere der gesamte Komplex der DDR sei gesondert zu betrachten.
7. Externe Strukturen und Vernetzung
Unterstützung durch unabhängige Institutionen
Es wird die Notwendigkeit betont, externe Stellen zu schaffen, mit deren Hilfe sich Betroffene organisieren können. Eine solche Stelle könnte beispielsweise in Form einer Stiftung auf Bundesebene eingerichtet werden. Unabhängige Räumlichkeiten für Treffen oder Beratungen sollten ebenfalls zur Verfügung stehen. Es wird als sinnvoll erachtet, dass eine zentrale Stelle Betroffene und Institutionen zusammenführt.
Vernetzung von Betroffenen
Es braucht eine Infrastruktur, die es Betroffenen ermöglicht, sich miteinander zu vernetzen, gegenseitig zu stärken und neue Betroffene zu finden. Dies könnte durch Online-Foren oder reale Treffen erreicht werden.
8. Good-Practice-Beispiele
- Externe Begleitperson: Eine unabhängige, externe Begleitperson kann Betroffene durch den gesamten Aufarbeitungsprozess hindurch unterstützen und das Vertrauen in den Prozess stärken.
- Aufwandsentschädigung: Die finanzielle Entlastung von Betroffenen durch die Übernahme von Reisekosten, Technikbeschaffungen oder Therapiekosten kann ihre kontinuierliche Beteiligung sicherstellen.
- Netzwerke für Betroffene: Die Etablierung von Betroffenennetzwerken ist wichtig, um den Austausch untereinander zu fördern und neue Betroffene zu finden.
9. Erwartungen der Betroffenen
Haltung und Empathie der Institutionen
Betroffene erwarten von Institutionen, dass diese ihnen Glauben schenken, Raum für ihre Geschichten bieten und einen ehrlichen Willen zur Aufarbeitung zeigen. Dies umfasst auch das Vertrauen in die Kontinuität der beteiligten Teams.
Partizipation und Transparenz
Betroffene sollten von Anfang an aktiv in Aufarbeitungsprozesse eingebunden werden, indem sie sowohl über Ziele als auch über die Analyse von Problemen mitentscheiden können. Es sollte klar sein, welche Rolle sie spielen und welche Einflussmöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen.
10. Probleme und juristische Fragen
Machtasymmetrien
Die strukturellen Machtunterschiede zwischen Institutionen und Betroffenen stellen ein zentrales Problem dar. Betroffene sollten nicht durch institutionelle Vorgaben oder eigennützige Interessen der Institution benachteiligt werden. Die Macht der Institution dürfe sich nicht in einer erneuten Machtlosigkeit der Betroffenen manifestieren. Deswegen müssten Spaltungen von Betroffenengruppen verunmöglicht sowie der Betroffenenwille klar mit einbezogen und nicht übergangen werden.
Datenschutz und juristische Hürden
Die oft starre Handhabung von Datenschutzrichtlinien verhindert oder verzögert häufig die Aufarbeitung. Betroffene fordern daher transparente und verbindliche Richtlinien für die Nutzung ihrer Daten.
Abschluss von Aufarbeitungsprozessen
Es gibt keine klare Definition, wann ein Aufarbeitungsprozess als abgeschlossen gelten kann. Diese Entscheidung dürfe nicht allein den Institutionen überlassen werden.
Fazit und Empfehlungen
Der erste Zyklus der AG 2 zeigt, dass Betroffenenbeteiligung ein komplexes und vielschichtiges Thema ist, das institutionelle Anpassungen und Standards erfordert. Externe Unterstützung, Vernetzungsstrukturen für Betroffene und eine klare Regelung des Datenschutzes sind essenziell. Gleichzeitig müssen institutionelle Machtasymmetrien durch transparente Prozesse und verbindliche Entschädigungsregelungen abgebaut werden.