Zyklus 1 / Arbeitsgruppe 3
Was sind strukturelle Anforderungen an Institutionen für eine gelingende Betroffenenbeteiligung in Aufarbeitungsprozessen?
Zusammenfassung der Ergebnisse aus den AG-Sitzungen am 13.12.2023, 19.01. und 29.02.2024. Sie fasst die zentralen Diskussionspunkte und Ergebnisse zusammen, ohne sich an den chronologischen Verlauf der Treffen zu halten.
Wichtigste Ergebnisse
- Zu Beginn eines Aufarbeitungsprozesses sind gemeinsame Vereinbarungen zwischen Aufarbeitenden, Institution und Betroffenen wichtig.
- Die Haltung, mit der Betroffenen begegnet wird, hat großen Einfluss auf deren Bereitschaft zur Beteiligung.
- Aufarbeitungsprozesse sind nie vollständig abgeschlossen und können nur pausieren. Dies muss konzeptionell mitbedacht werden.
- Wissenschaftliche Studien sind Teil von Aufarbeitungen, jedoch gehen Aufarbeitungsprozesse weit über diese hinaus und lassen sich nicht darauf reduzieren.
- Ein Recht auf Aufarbeitung kann Betroffene stärken und Machtungleichgewichte ausbalancieren.
- Eine Stiftung oder ein Fonds kann eine Struktur schaffen, die Aufarbeitung ermöglicht und begleitet.
1. Gemeinsame Vereinbarungen zu Beginn eines Aufarbeitungsprozesses
Standards zur Betroffenenbeteiligung sollten den Beginn eines Aufarbeitungsprozesses definieren bzw. näher beleuchten: Was verstehen die verschiedenen Akteur:innen darunter? Welche verschiedenen Aspekte sind zu berücksichtigen? Dabei sei zwischen individueller und institutioneller Aufarbeitung zu unterscheiden. Aber auch darüber hinaus sollten sich im Vorfeld eines Aufarbeitungsprozesses alle Beteiligten zu folgenden Punkten verständigen:
- Begriffsdefinitionen
- (Lern-)Ziele
- Aufgabenverteilung und -strukturierung
- Rolle von Betroffenen und Art ihrer Beteiligung
- Verantwortliche bei der Institution und Ansprechpartner:innen
- Qualitäts- und Evaluationsstandards
- Rahmenbedingungen
- finanzielle und technische Ausstattung
- Möglichkeiten der Begleitung, Moderation, Supervision, Beratung bzw. Therapie
- Kommunikationsregeln
- Datenschutzfragen
Die Spezifika des institutionellen Kontexts müssen dabei beachtet werden. Eine Institution, die sich der Aufarbeitung stellt, muss bereits zu Beginn die Schulung ihrer Mitarbeitenden für den Umgang mit dem Thema priorisieren.
2. Haltung im gegenseitigen Kontakt
Institutionen sollten zu Beginn einer Aufarbeitung ihre Motivation offenlegen, da dies die Bereitschaft der Betroffenen zur Beteiligung beeinflussen kann. Ein hohes Maß an Transparenz und Kommunikation ist erforderlich. Betroffenen sollte mit offenem Interesse und nicht mit Abwehr begegnet werden. Ein Bewusstsein dafür, dass sexualisierte Gewalt wahrscheinlich überall stattgefunden hat, kann dabei hilfreich sein. Diese Haltung sollte sich auf allen Ebenen der Institution widerspiegeln. Mitarbeitenden muss vermittelt werden, warum Aufarbeitung für die jeweilige Institution notwendig und relevant ist.
3. Beendigung und Bewertung von Aufarbeitung
Ein Aufarbeitungsprozess kann nicht von der Institution allein für abgeschlossen erklärt werden, sondern nur gemeinsam mit den Betroffenen. Auch warum eine Aufarbeitung pausiert, muss gut begründet werden. Inwieweit die Schritte der Aufarbeitung erfolgreich, inhaltlich sinnvoll oder zufriedenstellend sind, kann ebenfalls die Institution nicht allein bestimmen. Es muss eine möglichst große Zahl von Betroffenen einbezogen werden, wofür geeignete Strukturen geschaffen werden sollten. Auch sollte gefragt werden, welche gesellschaftlichen Konsequenzen eine Aufarbeitung hat und wie die Ergebnisse in die breite Öffentlichkeit getragen werden können.
Weiterhin ist zu klären, wie Betroffene gegen Ende eines Aufarbeitungsprozesses weiterhin Kontakt zur Institution sowie untereinander halten können, um den Prozess gegebenenfalls neu zu starten. Dafür sollte es einen Fahrplan geben, wann dieser eingeleitet wird und was dann zu passieren hat.
4. Unterscheidung zwischen Aufarbeitungsprozess und Aufarbeitungsstudien
Ein Aufarbeitungsprozess geht über wissenschaftliche Studien über sexualisierte Gewalt in einer oder in mehreren Institutionen hinaus. Daher kann das Ende einer Studie nicht das Ende des Prozesses bedeuten. Studien können jedoch sinnvolle Ansätze für die Fortführung der Aufarbeitung liefern. Betroffene sollten dabei einbezogen werden. Es kann sinnvoll sein, auch Betroffene aus anderen institutionellen Kontexten zu beteiligen, insbesondere, wenn Betroffene aus dem direkten Kontext sich nicht beteiligen wollen. Darüber hinaus sollte geprüft werden, welche Veröffentlichungsmöglichkeiten abseits von Berichten angemessen sind. Aufarbeitung ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht als abgeschlossen anzusehen ist und jederzeit wieder reaktiviert werden kann, auch im Sinne einer erinnerungspolitischen Gestaltung – z. B. in Form eines Gedenktages, eines Ortes der Erinnerung wie etwa eines Mahnmals o. Ä. m. Diese betrifft nicht nur die Institution und deren Mitarbeitende, sondern auch die Betroffenen und die Gesellschaft.
5. Rechtliche Fragestellungen
Im Rahmen der AG spielten rechtliche Fragestellungen eine zentrale Rolle, etwa die Stärkung von Betroffenen durch ein Recht auf Aufarbeitung oder auf parteiliche Begleitung und Rechtsschutz in Aufarbeitungsprozessen. Zudem wurde ein Zeugnisverweigerungsrecht für an der Aufarbeitung Beteiligte diskutiert. Diese Maßnahmen könnten das Ungleichgewicht zwischen Institutionen und Betroffenen (sowie anderen Beteiligten) teilweise ausgleichen.
Themenspeicher
- Betroffene in Aufarbeitungs- und Gerichtsprozessen sollten ein Recht auf parteiliche Begleitung haben, z. B. durch Beratungsstellen oder Begleitpersonen (auch in rechtlich bereits verjährten Fällen). Beratungsstellen müssen hierfür besser ausgestattet werden.
- Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt und Verlängerung der Aufbewahrungsfristen von Akten.
- Ein Recht auf Aufarbeitung auch für Angehörige, da sie ebenfalls traumatisiert sein können und deshalb eine Aufarbeitung (neu) anstoßen können sollten.
- Haftungsfreistellung für Betroffene und ehrenamtlich Aufarbeitende, um Druck durch Täter:innen zu verringern.
- Infragestellung des Gewichts der Aussagepsychologie und der Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Gerichtswesen.
6. Unabhängige Struktur zur Aufarbeitung: Institution oder Fonds
Es sollte eine übergeordnete, unabhängige Struktur geschaffen werden, die mit Expertise und Begleitung Aufarbeitungsprozesse unterstützt. Es wurde die Idee einer Stiftung oder eines Fonds angeregt, in den alle Institutionen anteilig jährlich einzahlen, um einen Kapitalgrundstock zu schaffen. Diese Struktur könnte feste Mitarbeitende haben, z. B. auch einen Betroffenenrat. Die Verortung wurde entweder staatlich oder komplett unabhängig angedacht. Zu den Aufgaben dieser Stelle könnten folgende gehören:
- Externe dritte Person, die in Gesprächen einen sicheren Rahmen schafft,
- Rechtsschutz für Betroffene, der Anwaltskosten unabhängig von Vermögen und Einkommen übernimmt,
- Begleitung für Betroffene vor einem Erstkontakt mit der Institution, um emotionale Überforderung zu vermeiden. Institutionsmitarbeitende sollten darin geschult werden, wie sie mit solchen Situationen umgehen,
- Langfristige psychologische Begleitung von Betroffenen und Vertreter:innen der Institutionen in Aufarbeitungsprozessen,
- Mediationsfunktion,
- Ombudsstelle für das Beschwerdemanagement bei Aufarbeitungen,
- Organisation des Engagements von Betroffenen mit Aufarbeitungserfahrung, wenn sie Interesse an weiteren Aufarbeitungsbemühungen in anderen Kontexten haben.