Zyklus 2 / Arbeitsgruppe 3
Organisatorische und institutionelle Rahmenbedingungen für einen Aufarbeitungsprozess
Zusammenfassung der Ergebnisse aus den AG-Sitzungen am 28.05., 12.07. und 12.09.2024.Sie fasst die zentralen Diskussionspunkte und Ergebnisse zusammen, ohne sich an den chronologischen Verlauf der Treffen zu halten.
1. Grundhaltung zum Prozess und zur Kommunikation
- Eine Aufarbeitung sollte als Lernprozess verstanden werden, um auch die Möglichkeit zu haben, Themen neu zu denken und gegebenenfalls zu überdenken oder aufzugeben, was zu Beginn eines Aufarbeitungsprozesses festgelegt wurde.
- Die AG hat den Begriff der "Augenhöhe" zwischen Betroffenen und Vertreter:innen von Institutionen kontrovers diskutiert und festgehalten, dass dieser im Rahmen von Aufarbeitungen zu klären ist.
- Transparenz ist mit Kommunikation verbunden und stellt sowohl nach innen als auch nach außen eine Herausforderung dar.
- Transparente und klare Verfahrenswege nach innen (also innerhalb des Aufarbeitungsprozesses, nicht öffentlich) können dem Gefühl eines Machtgefälles und der Dominanz entgegenwirken und zur Vertrauensbildung beitragen. Es gilt, informelle Kommunikationskanäle, durch die unterschiedliche Informationen fließen könnten, zu vermeiden. Gleichzeitig wird wahrscheinlich eine Mischung aus formellen und informellen Settings benötigt, die jeweils das Bedürfnis nach offizieller Kommunikation und informellem Austausch erfüllen.
- Transparenz nach innen umfasst auch, dass alle Informationen über die Aufarbeitung und ihren Fortgang zentral für alle verfügbar sind, z. B. über Zugänge zu einem Server. Alle Betroffenen sollten über die Prozesse informiert werden, wobei Präferenzen für die Kommunikation berücksichtigt werden sollten, z. B. per E-Mail, Telefon oder Post. Supervision für Betroffene sollte ebenfalls ermöglicht werden.
- Im Sinne der Transparenz nach außen (öffentliche Kommunikation) sollten aufarbeitende Institutionen diesen Prozess und seine Schritte unter Einhaltung des Datenschutzes auf ihrer Website dokumentieren. Dies bietet auch die Möglichkeit, weitere Betroffene darauf aufmerksam zu machen.
- Die Institutionen sollten die Haltung, mit der sie die Aufarbeitung initiieren, mit den Beteiligen offen diskutieren. Dabei – und auch in den einzelnen Phasen des Aufarbeitungsprozesses – sollten die unterschiedliche Erwartungen von Betroffenen an die Institution berücksichtigt werden.
- Haltung drückt sich auch darin aus, dass eine Institution Aufarbeitung als Gesamtengagement versteht und diese Bereitschaft deutlich macht, indem sie den Prozess der Aufarbeitung nicht als vereinzeltes "Projekt" innerhalb der Institution versteht, sondern als grundlegend und wegweisend. Das Thema sollte auch in unterschiedlichen Gremien präsent sein und neuem Personal vermittelt werden. Eine solche Haltung findet auch in einem funktionierenden Beschwerdemanagement Niederschlag.
- Haltung übersetzt sich aber auch in Ressourcen, die für Aufarbeitung zur Verfügung stehen. Das sind Geld, Personal, technische Ausstattung und andere Mittel – auch und gerade für Betroffene. Eine eventuell prekäre Lebenssituation von Betroffenen ist hier ebenfalls in den Blick zu nehmen, ebenso wie der Bedarf an persönlicher Assistenz, also die personelle Hilfe bei Beeinträchtigungen. Tagungskosten und Ressourcen für die Vernetzung von Betroffenen sollten übernommen werden. Um eine Orientierung über die mögliche Höhe von Ressourcen zu geben, sollten Richtwerte festgelegt werden.
2. Externe Instanz, die den Prozess begleitet
- Zu Beginn eines Aufarbeitungsprozesses braucht es eine Instanz, die Gespräche zwischen Betroffenen und Institutionen begleitet und den Beziehungsaufbau erleichtert. Die Begleitung kann eine externe Moderation oder Mediation mit Expertise im Themenfeld sexualisierte Gewalt sein. Diese Personen sollten andere sein als die unabhängigen Aufarbeitenden, um eine klare Rollentrennung zu gewährleisten.
- Die Triangulierung der Beziehung zwischen Institution, Betroffenen und dritter Instanz ist wesentlich für den Dialog zwischen Betroffenen und Institution. Zu Beginn eines Aufarbeitungsprozesses sollte gemeinsam geklärt werden, was der Prozess zwischen Betroffenen, Institution und der dritten Instanz benötigt und welche Schritte der Aufarbeitung notwendig sind. Bei bestimmten Betroffenengruppen, wie z. B. DDR-Heimen, ist dies jedoch nicht mehr möglich.
- Unter Begleitung durch die externe Instanz sollten gemeinsame Kommunikationsregeln und Verfahren festgelegt werden, z. B. die Erstellung von Tagesordnungen oder die Form von Vetos.
3. Presse und Pressearbeit
- Die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Transparenz und Öffentlichkeit sind verständlich. Gleichzeitig sollte klar geregelt sein, wann die Öffentlichkeit über was informiert wird und wann nicht, um zu verhindern, dass die Arbeit unter dem Druck der Öffentlichkeit bzw. der Presse leidet. Daher sollte zu Beginn geklärt werden, ob die Pressearbeit gemeinsam durchgeführt wird und was das bedeutet (z. B. gemeinsame Pressemitteilungen und deren Freigabeprozess). Dazu sind Vereinbarungen und eine klare Kommunikation erforderlich, um Frustration auf allen Seiten zu vermeiden. Verschwiegenheit ist ein weiterer Aspekt von Transparenz.
- Für beide Seiten sollte es die Möglichkeit geben, eigenständig zu kommunizieren, wenn dies der Haltung des Prozesses und der Beteiligung der Betroffenen förderlich ist. Gleichzeitig haben Institutionen meist mehr Möglichkeiten der Pressearbeit und Strukturen wie Pressesprecher:innen, Medienkontakte etc. Sie sollten ihre Kommunikation mit allen Beteiligten abstimmen.
- Presse und Betroffene
- Betroffene können Presse nutzen, um Druck auf Institutionen auszuüben, gleichzeitig können Journalist:innen Betroffene ausnutzen. Manchmal vereinfacht die Presse Sachverhalte zu stark. Richtlinien für Medien und Presse in Bezug auf Wording sowie ihre Sensibilisierung wären daher sinnvoll.
- Betroffene sollten schriftliche Vereinbarungen mit Journalist:innen treffen, damit diese ihren individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen, vor Veröffentlichungen über den Inhalt informieren und Zitate zur Freigabe vorlegen.
- Presse und Institution
- Zur Vorbereitung einer Institution auf eine Aufarbeitung braucht es eine Qualifizierung von Mitarbeiter:innen zur Thematisierung sexualisierter Gewalt in der Öffentlichkeit. Diese Qualifizierung kann auch als Form eines Austauschs gedacht werden, bei dem Fachpersonen sowie Betroffene ihre Expertise weitergeben.
- Die Öffentlichkeitsarbeit bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen einer Skandalisierung des Unrechts in der Öffentlichkeit im Sinne einer kurzzeitigen, intensiven Berichterstattung und dem Schutz der Betroffenen, weswegen auf eine betroffenensensible Berichterstattung geachtet werden sollte.
4. Information von Betroffenen über Aufarbeitungen
- Es gibt viele Kanäle, um Betroffene über Aufarbeitungen zu informieren: Flugblätter, Berichte in lokalen, regionalen und überregionalen Zeitungen, auf Websites, über Social Media und weitere Kanäle der Institutionen. Weil Betroffene unterschiedliche Informationskanäle nutzen, sollten möglichst viele für die Verbreitung Informationen zur Aufarbeitung verbreiten. Aufrufe zur Beteiligung können durch Betroffene selbst, die Institution oder unabhängige Aufarbeitende stattfinden; dabei ist abzuwägen, welche Konflikte sich durch welches Vorgehen ergeben könnten.
- Für Aufrufe fehlt eine zentrale Stelle zur Weiterleitung und Verbreitung. Es könnten auch "digitale Karten", also bereits existierende Netzwerke und Engagierte, verzeichnet werden, um sie gezielt anzusprechen.
- Informationen an Betroffene, die sich bereits an eine Institution gewandt haben, müssen gut abgewogen werden. Es ist zu vermeiden, dass Betroffene oder Informationen über deren Fälle ungewollt genannt werden.
- Für Institutionen ist die Kontaktaufnahme mit Betroffenen ein Spagat zwischen Sensibilität und drohendem Paternalismus, also Bevormundung aufgrund des vermeintlichen Wohls der Betroffenen. Betroffene sollen die Kontrolle behalten und entscheiden, ob sie Kontakt möchten und wenn ja, in welcher Form.
- Die AG hat über einen Musterbrief zu Kontaktaufnahme mit Betroffenen gesprochen:
- Ein Musterbrief ist ambivalent, denn der Brief bricht in Schweigezonen ein, kann im persönlichen Umfeld Diskussionen auslösen und dazu führen, dass Betroffene die Kontrolle verlieren. Musterbriefe können dazu führen, dass Institutionen relevante Auseinandersetzungen nicht mehr führen.
- Vorzuziehen wäre eine Mustergliederung bzw. ein Textgerüst mit Textbausteinen. In manchen Kontexten sind auch indirekte Anschreiben, z. B. über einen Newsletter, möglich.
- Die AG hat auch über die mögliche Retraumatisierung durch solche Anschreiben gesprochen:
- Es gab sowohl Erfahrungen der Retraumatisierung als auch Erfahrungen, in denen Institutionen das Argument der Retraumatisierung vorbrachten, um Betroffene nicht kontaktieren zu müssen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Aussage "eine Aufarbeitung biete eine Gefahr für Retraumatisierung(en)" für Betroffene selbst eine Retraumatisierung darstellen kann, weil ihre Erfahrungen nicht gehört und gesehen werden.
- Unbestritten ist, dass es zu Retraumatisierungen kommen kann, daher sollte jeglicher Kontakt sensibel und empathisch erfolgen, Unterstützung angeboten und auf Hilfsangebote verwiesen werden.
- Eine externe Stelle ist wichtig für Kontaktherstellung mit Betroffenen, wenn Institutionen nicht mehr existieren, z. B. im Kontext der DDR.
5. Rechtliche Rahmenbedingungen von Aufarbeitung
Grundlage des Austauschs über rechtliche Rahmenbedingungen bildete ein Input durch Birgit Posselt aus dem Büro der Aufarbeitungskommission (siehe Gesamtprotokoll).
Aus der Diskussion wurde festgehalten:
- Derzeit gibt es kein direkt einklagbares Recht bzw. keinen Anspruch auf Aufarbeitung. Eine Verjährung von Taten – ähnlich wie im Strafrecht – gilt bei Aufarbeitungsprozessen ebenfalls nicht.
- Die derzeitige Rechtslage sieht kein Auskunfts-/Aktenzugangsrecht bei Schulen, Kirchen und Sportverbänden vor – dies sollte anders sein. Archive sind für Laien nicht einfach zu durchschauen; diese bieten zum Teil Unterstützung bei Akteneinsicht an und es wäre hilfreich, wenn dies überall geschähe. Die Aufbewahrungsfrist von 15 Jahren für einige Akten ist zu kurz und muss länger sein.
- Wichtig ist die rechtliche Absicherung für Betroffene in Aufarbeitungen. Sie benötigen eine Sicherheit vor Haftbarmachung, um nicht verklagt zu werden, falls sie Täter:innen, Helfende oder Opfer während des Aufarbeitungsprozesses nennen. Ein Mustervertrag zum Haftungsausschluss ist nötig. In jedem Fall sollten Betroffene Unterstützung bekommen, um mehr Rechtssicherheit zu erlangen (was dürfen diese sagen und was nicht?); eine kostenfreie Rechtsberatung wäre wünschenswert.