Zyklus 2 / Arbeitsgruppe 4
Übergeordnete Themen und Fragen im Rahmen eines gemeinsamen Aufarbeitungsprozesses
Zusammenfassung der Ergebnisse aus den AG-Sitzungen am 28.05., 12.07. und 12.09.2024. Sie fasst die zentralen Diskussionspunkte und Ergebnisse zusammen, ohne sich an den chronologischen Verlauf der Treffen zu halten.
1. Haltung und Menschenbild
- Die Haltung aller Beteiligten im Rahmen von Aufarbeitung ist ein zentraler Faktor für das Gelingen und muss klar formuliert sowie kontextbezogen konkretisiert werden. Dabei wird betont, dass
- Standards je nach Kontext zu präzisieren sind, während grundlegende Haltungen universell gelten sollten.
- eine Präambel aus dem Dialogprozess hinaus den Rahmen für Standards in Aufarbeitungen erklären und so eine entscheidende Rolle bei der Prägung von Haltung in Aufarbeitungen spielen kann.
- die Haltung von Institutionen zweigeteilt zu betrachten ist: einerseits gegenüber der Aufarbeitung und andererseits hinsichtlich des Schutzauftrags gegen Gewalt.
- Verstöße gegen Haltungen klar geregelt und deren Konsequenzen in schriftlicher Form festgehalten werden sollten.
Ein weiteres zentrales Thema ist das zugrundeliegende Menschenbild:
- Sexualisierte Gewalt wird als Menschenrechtsverletzung und explizit als Kinderrechtsverletzung benannt.
- Der Fokus liegt darauf, Betroffene nicht auf ihr Leid zu reduzieren, sondern ihren Mut und ihre Stärke anzuerkennen.
- Das gesellschaftliche und institutionelle Bild vom Kind sowie die Rolle des Staates im Schutz des Kindes sollen in der Präambel verankert werden.
- Empathie und die Fähigkeit, sich emotional berühren zu lassen, werden als wichtige Haltungen für alle Beteiligten hervorgehoben.
2. Problematisierung von Begriffen und Sprachsensibilität
Sprache und Begriffe spielen eine zentrale Rolle, da Haltung sich oft in der Wortwahl widerspiegelt. Die AG diskutierte intensiv über problematische Begriffe und eine mögliche „No-Go-Liste“:
- Neutralität: Wird kritisch betrachtet, da echte Neutralität in einem Kontext von Machtungleichheiten kaum möglich ist. Stattdessen wird "Parteilichkeit mit Betroffenen" als angemessener empfunden.
- Augenhöhe: Skepsis besteht gegenüber diesem Begriff, da Institutionen nie dasselbe Wissen und dieselbe Erfahrung wie Betroffene haben können. Alternativ wird „Kommunikation im Bewusstsein für Machtverhältnisse“ vorgeschlagen.
- Sünde: Als religiös konnotierter Begriff unpassend. Stattdessen soll von "Verbrechen" gesprochen werden.
- Anerkennung des Leids: Wird als kirchlich geprägt wahrgenommen. Ein alternativer Vorschlag ist "Anerkennung des Unrechts".
- Eine Liste problematischer Begriffe wird als sinnvoll erachtet, wobei sie nie abgeschlossen sein kann, sondern eine dynamische "work in progress" darstellt.
Die Bedeutung von Sprache und deren Kontext soll verstanden werden, ohne den Diskurs um Begriffe zum Hindernis für die Aufarbeitung werden zu lassen.
3. Macht und Machtgefälle
Dieses Thema zieht sich als roter Faden durch alle Diskussionen. Die AG betont:
- Ein Bewusstsein für Macht-Asymmetrien ist essenziell, sowohl zwischen Betroffenen und Institutionen als auch innerhalb der Institutionen selbst.
- Reflexivität im Umgang mit Macht ist eine notwendige Voraussetzung für eine gelingende Aufarbeitung.
- Institutionen müssen anerkennen, dass Betroffene nicht nur verletzte Individuen sind, sondern auch Handlungsmacht besitzen.
- Externe Fachberatungsstellen können eine sinnvolle Unterstützung sein, um Betroffenen zusätzlich zur Institution Anlaufstellen zu bieten.
- Auch Institutionen selbst können sich ohnmächtig fühlen, etwa durch Unsicherheit bei der Kommunikation oder durch fehlende Erfahrung im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Dies darf jedoch nicht als Ausrede dienen, sondern muss durch Schulungen und Fortbildungen adressiert werden.
4. Heterogenität der Betroffenen
Die Anerkennung der Heterogenität unter den Betroffenen war ein zentraler Punkt in der AG:
- Betroffene haben unterschiedliche Bedürfnisse, Erfahrungen und Erwartungen. Diese Vielfalt muss anerkannt werden.
- Betroffene selbst sollten rücksichtsvoll miteinander umgehen und Raum für unterschiedliche Emotionen und Perspektiven lassen.
- Widersprüche unter Betroffenen dürfen nicht von Institutionen instrumentalisiert werden, um die Gruppe zu spalten oder Anliegen zu delegitimieren.
- Ein Aufarbeitungsprozess kann erst abgeschlossen sein, wenn keine betroffene Person mehr eine Fortsetzung einfordert.
5. Präambel und Standards
Um Standards bei der Betroffenenbeteiligung in Aufarbeitungen zu kontextualisieren, ist eine Präambel notwendig. Diese Präambel sollte
- das Menschenbild und die gesellschaftliche Stellung von Kindern und von Menschen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren haben, klären.
- die Verantwortung von Eltern, Staat und Institutionen für den Schutz von Kindern verdeutlichen.
- die Anerkennung des Unrechts explizit nennen.
- die moralische Pflicht zur Aufarbeitung einer jeden Institution, in der sexualisierte Gewalt stattgefunden hat, benennen.
- die Genese des Dialogprozesses skizzieren: Warum wurde er initiiert? Wer beteiligt sich? Was sind die Ziele?
- die Begriffe „Unabhängigkeit“ und „Parteilichkeit“ als vereinbar darstellen.
- klarstellen, dass es verschiedene Ebenen der Aufarbeitung gibt: individuell, institutionell, staatlich und gesellschaftlich – und wie Aufarbeitung im vorliegenden Text verstanden wird.
- die Nachhaltigkeit und Weiterentwicklung der Standards betonen.
Eine Umbenennung des Dialogprozesses wurde ebenfalls in der AG angeregt, um den Fokus klarer zu setzen. Vorschläge:
- Standards der Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und Institutionen im Kontext institutioneller Aufarbeitung
- Standards der Partizipation und Mitbestimmung im Kontext institutioneller Aufarbeitung